Dienstag, 5. Juli 2016

DIESE TAGE

"Sie hatte solche schweigsamen Tage schon sehr früh erlebt, an das erste Mal konnte sie sich noch genauestens erinnern, es war an einem Sommerferientag gewesen, blauer Himmel, die Sonne brannte auf die Erde herunter und sie machte Urlaub mit ihrer Familie an der Ostsee, auf einer kleinen Halbinsel, durch eine kleine Brücke mit dem Festland Polens verbunden. Dort hatte sie morgens das allererste Mal ihre hellbraunen Augen aufgeschlagen und diesen Befehl ihres Geistes erhört, hatte verblüfft diese eindeutige Nachricht empfangen und registriert, dass sie ihr ausgeliefert war. Das war das erste Mal, dass sie bemerkt hatte, dass sie die Dienerin der Bedürfnisse ihrer Seele war, dass diese verblüffender Weise ein Eigenleben führte, auf das sie bewusst keinen Einfluss zu nehmen vermochte. Über den Sonnentag war Martha schweigsam und dachte so intensiv nach, wie sie es vielleicht noch nie getan hatte, denn sie war verwirrt, etwas so hilflos ausgeliefert zu sein, von dem sie immer gedacht hatte, das es ihres war, doch das war es nicht. Sie bemerkte, wie sie sich das erste Mal nicht einheitlich wahrnahm, denn plötzlich war ihre Seele ein eigener Organismus in dem ihrigen, ein abgekapselter Teil ihres Ichs, der zu gewissen Zeiten brüllend seinen Tribut forderte. Wofür er das tat, konnte sie sich damals in ihrem zarten Alter nicht erklären, sie spürte lediglich, dass sie von einem Moment auf den anderen schutzlos geworden war in ihrem eigenen Wesen, dass die Mauer, die ihre menschliche Hülle von der restlichen Welt trennte, kein Schutzwall mehr war, sondern Gefängnismauern. Der schwerwiegendere, kräfteraubendere Kampf würde innerhalb ihrer eigenen Mauern stattfinden und nicht außerhalb, wie sie es bis jetzt immer angenommen hatte. Damals hatte es Martha verblüfft, aber auch auf irgendeine Weise interessiert und fasziniert, sie hatte diesem neuen Gemütszustand nachgefühlt, hatte interessiert wie eine Außenstehende beobachtet, was er in ihr anrichtete. Doch ihr war mit den Jahren dieser rettende, junge Forscherblick abhanden gekommen, denn sie hatte auch das Unheil feststellen und fühlen müssen, dass er hinterließ nach jedem Besuch."

1 Kommentar:

  1. Liebste Karla, bitte werde Schriftstellerin. Ich bin zutiefst davon überzeugt, dass es deine Berufung ist!

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©Karla Laitko. Powered by Blogger.